Was wissen wir eigentlich wirklich? Was ist Vermutung? Was Gewissheit? Was ist notwendiges Wissen und was Vernunft?
„Wieso, weshalb, warum?“ mag man fragen, ganz einfach: „Wer nicht fragt, bleibt dumm!“
Die Frage nach dem Wissen, nach der Erkenntnis und ihrem Wesen ist essenziell. Warum?
Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen denken, eine Koranübersetzung, ein ṣaḥīḥ Ḥadīṯ, eine Aussage von Gelehrten und dergleichen mehr würden Erkenntnis liefern. Viele moderne Menschen denken, dass sie den Koran unter Zuhilfenahme ihres Verstandes verstehen könnten – was allerdings ein fataler Trugschluss ist, denn wer nicht gelernt hat zu Denken und seinen Verstand zu benutzen, kann dies nicht! Niemand würde sich Anmaßen die Statik für ein Gebäude zu errechnen, wenn er die Grundrechenarten nicht beherrscht. Wer würde einen anderen Menschen operieren, obgleich er von menschlicher Anatomie keinen blassen Schimmer hat? Niemand.
Als Menschen kommunizieren wir miteinander durch Sprache, welche selbst aus Begriffen zusammengesetzt ist. Jene Begriffe existieren allerdings nicht wirklich, sondern lediglich Aneinanderreihung von Lauten welche unser Verstand gelernt hat mit einem bestimmten von ihm entweder gedachten „Ding“ oder sinnlich wahrgenommenen, d.h. einer gesehenen, gefühlten, oder gehörten Sache verknüpft. Als Menschen die wir in einem recht gleichen Umfeld leben, haben wir meist ein recht einheitliches Verständnis von Begriffen. Die Religion aber beschäftigt sich in ihrer Grundlage nicht mit sinnlich wahrnehmbaren Dingen, sondern ist eine Geisteswissenschaft. Niemand kann die Wahrhaftigkeit der Offenbarung sinnlich erfahren, die Wahrhaftigkeit des Gottesgesandten [ʿalayhi salām] etc. Wenn wir hierüber, und über alles was die Religion uns gibt, Gewissheit erlangen wollen, so muss der Verstand in der Lage sein uns durch Nachdenken über die Dinge, die uns mit Gewissheit bekannt sind, Gewissheit zu bieten und uns Erkenntnis zu liefern.
Ist diese Gewissheit gegeben, so kann der Mensch seine Religion praktizieren, einen Weg des spirituellen Erbes des Gottesgesandten [ʿalayhi salām] beschreiten und diese Gewissheit auch mehr oder weniger sinnlich erfahren – der Verstand allerdings, welcher uns ermöglicht eine gewisse Erkenntnis über das Wesen Gottes und die Religion zu erlangen liegt dem zu Grunde.
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Was aber bezeichnet nun das komplizierte Wort Erkenntnistheorie, bzw. Epistemologie?
>>Als Erkenntnistheorie – auch Epistemologie genannt – wird diejenige philosophische Disziplin bezeichnet, die sich mit der Untersuchung der Bedingungen, Möglichkeiten und der Arten unseres Erkennens befaßt. Als erster Anstoß zu diesem Thema sei hier deshalb der Begriff der Vernunft – eben unseres natürlichen Vermögens zu Erkennen – angesprochen:
Die Vernunft (al-ʿaql) ist das Vermögen des Menschen, die Wirklichkeit zu erkennen, d. h. das Vermögen, das es ermöglicht, dass von den durch die Daten der Sinneswahrnehmung von den je einzelnen konkreten Dingen und von den einzelnen inneren Erfahrungen abstrahierte Abbilder – begriffliche Vorstellungen – wirklicher, d. h. innerhalb oder außerhalb seines Geistes vorhandener Dinge in seinem Geist entstehen, die mit den Dingen, die sie abbilden, übereinstimmen.<<
Bezüglich des Konzepts der Vernunft schreibt Ḥāfiẓ ad-Dīn an-Nasafī in seinem al-Manār:
>>… die Vernunft (al-ʿaql), die ein Licht ist, das den [Erkenntnis-]Weg von dem Punkt an erhellt, an dem das Erfassen der Sinne endet, so daß das Gesuchte dem Herzen offenbar wird und das Herz dieses durch sein, [d. h. des Herzens,] Betrachten erfaßt.<<
Und Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī schreibt:
>>Die Philosophen bestimmen [den Begriff des] Wissen[s] (al-ʿilm) als ,Entstehen der Form eines Dings in der Vernunft (al-ʿaql)‘. Die Form eines Dings ist das, was von ihm, [d. h. dem jeweiligen konkreten Ding,] genommen wird, nachdem seine individuellen Eigenschaften abstrahiert wurden. Die Vernunft an sich ist eine vom Stoff, [d. h. von der sinnlich wahrnehmbaren Welt,] getrennte Substanz, die in ihrem Wirken mit ihm, [d. h. mit dem Stoff der sinnlich wahrnehmbaren Welt,] verbunden ist. Sie ist die Vernunftseele (an-nafsu n-nāṭiqah), auf die ein jeder mit dem Wort ,ich‘ hinweist. Dies ist eine Begriffsbestimmung [ausschließlich] des menschlichen Wissens, das in notwendiges (ḍarūrīy) und erworbenes (iktisābīy) zerfällt. [D. h. diese Begriffsbestimmung erfaßt nicht das Wissen Gottes.]<<
Da das Thema leider zu komplex und vielschichtig ist, um es in einem kurzen Blogartikel ausreichen abzuhandeln sei im Folgenden ein wunderbarer Text hierzu bereitgestellt, welcher von Dr. Jens Bakker verfasst wurde, und welchem auch obige Zitate entnommen wurden. Diese tolle Sammlung ist es nämlich nicht wert, lediglich von einer handvoll Menschen genossen zu werden.
Wer wirklich wissen möchte, was er denn eigentlich weiß, dem sei die aufmerksame Lektüre jenes Textes ans Herz gelegt – denn nur wer weiß, was er denn weiß und nicht weiß, der weiß überhaupt irgendetwas. Wer allerdings nicht weiß, was er nicht weiß oder weiß, der weiß eigentlich rein gar nichts.
Einführung in die Erkenntnistheorie der klassischen Theologie
21. November 2016 at 21:33
Ma sha Allah! Ein super Text und nebenbei auch noch humorvoll!
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22. November 2016 at 11:39
Ein paar Bemerkungen, Sulaiman, zu einer interessanten Arbeit, die du verlinkt hast. Dort wird gesagt:
„Die Vernunft (al-ʿaql ) ist das Vermögen des Menschen, die Wirklichkeit zu erkennen, d. h. das Vermögen, das es ermöglicht, daß von den durch die Daten der Sinneswahrnehmung von den je einzelnen konkreten Dingen und von den einzelnen inneren Erfahrungen abstrahierte Abbilder – begriffliche Vorstellungen – wirklicher, d. h. innerhalb oder außerhalb seines Geistes vorhandener Dinge in seinem Geist entstehen, die mit den Dingen, die sie abbilden, übereinstimmen.“ (S. 5)
Das klingt so, als wäre die hier vorgestellete Erkenntnislehre abbildtheoretisch verfaßt, als wäre für sie die Erkenntnis eine Art Abbild der Dinge. Zieht sich eine solche Vorstellung des Verhältnisses vom Erkenntnisgegenstand zu seiner Erkennnis durch große Teile der abendländischen Philosophie (bei Platon ist es der Abdruck auf einer Wachstafel, bei Leibniz eine Leinwand, bei Marx der Spiegel, Frege diskutiert die Photographie), so gibt es ein stichhaltiges Argument gegen die Haltbarkeit einer solchen Lehre.
Denn fragen wir sie nach einer Erklärung der möglichen Falschheit eines Urteils, so stellt sich heraus, daß sie hieran scheitert, ja der einfache Fall eines falschen Urteils sich innerhalb einer abbildtheortischen Sprache nicht einmal formulieren läßt. Ein Versuch, der mit den Worten begönne: „Im Falle eines falschen Urteils haben wir ein Abbild“, fände bei der Frage „ja von was denn?“ schon sein frühes Ende. Denn mit einer Antwort wie „Abbild von nichts“ würde er sich, da ein Abbild ja immer schon als ‚Abbild von etwas‘ vorausgestzt war, nur selbst widersprechen. Mit der Umdeutung des strikten Verhältnisses von wahr und falsch in ein bloß graduelles von „mehr oder weniger adäqat“ (der Abdruck auf der Wachtafel ist eben verschmiert, der Spiegel hat einen blinden Fleck und die Photographie einen Stich) hätte diese Theorie den Boden einer soliden Erkenntnistheorie schön längst verlassen. Das Problem möglicher Falschheit von Urteilen läßt sich indes in einer anderen Art von Erkenntnistheorie vom Typ beispielsweise der kantischen leicht lösen.
Zur im obigen Satz angesprochenen Frage der Übereinstimmung von Vorstellungen und Dingen hat Sheikh Imanuel Kant selbst übrigens einmal gesagt, zur Überprüfung der Wahrheit einer Erkenntnnis verlange man, daß man sie mit dem Gegenstand vergleicht, um dann fortzufahren, „dazu ist es zuförderst nötig, ihn zu erkennen!“ Mit anderen Worten, wir können gar nicht eine Erkenntnis mit einem Gegenstand, sondern nur Erkenntnisse miteinander vergleichen.
In der oben verlinkten Semesterarbeit heißt es dann S. 61 weiter:
„Da die Sätze der Wissenschaften jedoch stets allgemeine Urteile sind, wie z. B. „Feuer ist heiß“, und keine partikularen, wie etwa das Urteil „dieses gerade hier anwesende Feuer ist heiß“ – denn nur um solche handelt es sich ja zunächst bei den durch unmittelbare Sinneswahrnehmung verursachten Urteilen über einen einzelnen wahrgenommenen Sachverhalt – tauchen sie nicht in den Wissenschaften selbst auf.“
Auch wenn die Sprache etwas ungewohnt klingt, wäre das, wie ich finde, kein Grund, den Sachverhalt allein deshalb für richtig dargestellt zu halten. 🙂 In kantischer Sprache hießen Sätze wie z. B. „Feuer ist heiß“ schlicht „analytische Urteile“, in denen der Pädikatsbegriff (hier: „heiß“) im Subjektsbegriff (hier: „Feuer“) immer schon als enthalten gedacht war. Analytische Sätze nähren nicht, und es ist sicher falsch, anzunehmen, die „Sätze der Wissenschaften seien stets“ solche Urteile.
Weiter heißt es dann: „Ohne Zweifel verfügen wir aber auch über allgemeine Urteile über Sachverhalte in der sinnlich wahrnehmbaren Welt wie z. B. „jedes Feuer ist heiß“, also muß es auch durch Sinneswahrnehmung verursachte allgemeine notwendige Urteile geben. Solche allgemeinen notwendigen Urteile werden aufgrund zahlreicher wiederholter Beobachtungen des gleichen Sachverhaltes gefällt.“ (S. 61 f.) Hier möchte ich mit Kant einwenden, daß wer aus der Empirie ein notwendiges Gesetz ableiten wolle, jemandem gleicht, „der aus Stein Wasser pressen“ will. Die Apodiktizität eines notwendig wahren Urteils kann nicht darauf beruhen, daß die Sache „zahlreich“ beobachtet wurde.
Allgemein enthält der verlinkte Text eine zur näheren Lektüre sicher reizende Arbeit, bei der ein terminologischer Vergleich (vielleicht in Tabellenform) die Suche nach Verbindungen zur Geschichte klassisch abendländischer Erkenntnistheorie sicher erleichtern würde. Was mich bei der bislang nur sehr flüchtigem Lektüre aber doch ein bißchen stört – wohl nur ein Darstellungsproblem –, ist eine Art von Übergenauigkeit, in der dem Personalpronomen eines angeschlossenen Satzes viel zu oft eine Klammer angefügt wird, in der das Subjekt, auf das es sich im vorangegangenen Satze bezieht, dann nochmal ausführlich genannt wird. Das stört – wir sind hier nicht im Kindergarten! – den Lesefluß ganz beträchtlich und gibt dem Text stellenweise eine Maniriertheit, die dem Original sicher fremd ist.
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